1999 – 2019: 20 Jahre Linksradikale – für immer Gruppe d.i.s.s.i.d.e.n.t.
Im Jahre 1999 entschlossen sich marxistische Studierende – inspiriert durch den Studierendenstreik 1998/99 und dessen Debatten und Auseinandersetzungen auch mit der radikalen Linken – dazu, jenseits von parteikommunistischer Disziplin und oder bloß kommentierender Kritik linke Politik zu gestalten: die Gruppe d.i.s.s.i.d.e.n.t. war geboren. In der Zwischenzeit ist viel passiert:
In Marburg haben wir z.B. erfolgreich gegen den reaktionären Marktfrühschoppen der Marburger Studentenverbindungen gekämpft. Wir waren in der Hochschulpolitik in AStA und StuPa aktiv, haben in der Hilfskraft-Initiative und den Bildungsstreiks für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen gearbeitet sowie in Bündnissen gegen die Privatisierung des Uni-Klinikums oder gegen christliche Fundamentalist*innen. Wir haben für das „Recht auf Stadt“ gekämpft und uns alten und neuen Nazis in den Weg gestellt. Seit 2006 sind wir außerdem in der Interventionistischen Linken (IL)* aktiv. Das erste gemeinsame große Projekt waren die massenhaften Aktionen zivilen Ungehorsams gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007. Weitere Aktionen folgten, u.a. die Kampagne „Castor schottern“ 2010/2011, die Proteste von Blockupy ab 2013, EndeGelände ab 2015 und 2017 der G20-Gipfel in Hamburg . Ein großer Schwerpunkt für uns war lange Zeit auch das Netzwerk „Care Revolution“.
Die Interventionistische Linke ist ein Zusammenschluss linksradikaler Gruppen und Einzelpersonen aus der undogmatischen und emanzipatorischen Linken im deutschsprachigem Raum. Wir sind u.a. in sozialen, antirassistischen, feministischen und Klimakämpfen aktiv und engagieren uns in den Bereichen Antifaschismus und Antikriegspolitik. Wir wollen eine Linke sein, die sich einmischt. Deshalb versuchen wir in all diese Auseinandersetzungen durch offene und breite Bündnispolitik unsere Positionen zu vermitteln und diese praktisch werden zu lassen.
Wir wollen eine radikale Linke die nicht nur gegen die Zumutungen und Grausamkeiten, sondern gegen den Kapitalismus insgesamt aktiv kämpft, die dabei immer wieder neue Allianzen sucht, bestehende Brüche vertieft und Chancen ergreift, die lieber Fehler macht und aus ihnen lernt, anstatt sich im Zynismus der reinen Kritik zu verlieren. Wir wollen eine radikale Linke, die auf den revolutionären Bruch mit dem nationalen und dem globalen Kapitalismus, mit der Macht des bürgerlichen Staates und allen Formen von Unterdrückung, Entrechtung und Diskriminierung orientiert. Kurz: Wir wollen eine neue, gesellschaftliche radikale Linke, die um politische Hegemonie ringt und Gegenmacht organisiert.
Es ist uns ein wichtiges Anliegen, linksradikale Politik nicht im Verborgenen oder szeneintern zu praktizieren, sondern offensiv mit unseren Inhalten nach außen zu treten. Das heißt für uns, dass wir uns einmischen in Debatten vor Ort mit einem selbstbewussten Auftreten und klaren Positionen, die wir auch vertreten, wenn sie im Kontext unbeliebt sind. Dazu gehört es auch, vor Presse und Öffentlichkeit dort, wo es notwendig ist, mit Namen und Gesicht aufzutreten.
Nichts bleibt wie es ist
Das kleine Marburg an der Lahn hat zahlreiche Generationen von Linksradikalen kommen und gehen sehen. Nicht wenige waren bei uns aktiv, haben einen Teil ihrer Politisierungs- und Organisierungserfahrungen – im positiven wie negativen – in der Gruppe d.i.s.s.i.d.e.n.t. durchlaufen. Darüber hinaus sind Freundschaften und Beziehungen entstanden, die die Marburger Zeit dieser Genoss*innen überdauert haben.
Auf der anderen Seite hat die Bologna-Reform und die Einführung des Bachelor-/Master-Systems die studentische, außerparlamentarische Landschaft in den vergangenen Jahren schleichend, aber stark ausgedünnt. Viele Genoss*innen verlassen nach 2-3 Jahren Regelstudienzeit die Stadt. Einer politischen und organisatorischen Perspektive ist dieser Umstand natürlich ein schwerer Klotz am Bein. Gleichzeitig erleben wir in Marburg wie überall große Mobilisierungen, sei es zur #wirsindmehr-Demonstration 2018 mit 8.000 Menschen oder zum jüngsten Klimastreik 2019 mit 9.0000 Menschen. Aktionen wie zuletzt mit der abgewehrten Mieterhöhung und der Mieter*innenorganisierung bei der GWH oder der Blockade gegen Gauland in Marburg-Bauerbach haben gezeigt, dass wir von der linken Hegemonie in Marburg, die die Generationen vor uns erkämpft haben, noch immer profitieren und sie in konkrete Erfolge umsetzen können.
Es stimmt uns alles andere als glücklich, dass wir eine der letzten verbliebenen außerparlamentarischen Gruppen des einst „Roten Marburg“ sind, die kontinuierlich existiert und aktiv Politik gemacht hat. Umso wichtiger ist es für uns zum einen dem eigenen Anspruch, „raus aus der Szene, rein in die Gesellschaft“, gerecht zu werden und auch für Menschen jenseits der Universität und mit einer längerfristigen Perspektive in Marburg ein Ort der Organisierung zu sein. Zugleich müssen wir uns immer wieder erneuern, um nicht zu verkrusten und ansprechbar für Menschen ohne große politische Vorgeschichte zu sein.
20 Jahre sind vergangen seit sich die Gruppe d.i.s.s.i.d.e.n.t. gründete. 20 ereignisreiche Jahre in denen diskutiert, gestritten, Kompromisse gefunden, Freundschaften geschlossen und gemeinsam demonstriert und blockiert wurde. Dieses Jubiläum wollen wir zum Anlass nehmen unsere Genoss*innen, uns und die Erfolge die wir gemeinsam erkämpft haben, ordentlich zu feiern und den nächsten Schritt auf unserer Reise zur Revolution zu machen:
Daher bennen wir uns in „Interventionistische Linke Marburg - gruppe d.i.s.s.i.d.e.n.t." um.
Diese Umbenennung ist mehr als nur eine Formalie, denn sie dokumentiert die Aufhebung der bisherigen Gruppenidentitäten in dem Sinn, dass sich künftig alle Strömungen und Tendenzen der IL in allen lokalen Basiseinheiten wiederfinden können. Das wiederum bedingt eine Öffnung vieler Gruppen über ihren bisherigen subkulturellen oder habituellen Background hinaus [...].
(Interventionistische Linke 2014: IL im Aufbruch – Ein Zwischenstandspapier. Online: https://interventionistische-linke.org/positionen/il-im-aufbruch-ein-zwischenstandspapier)