Zur Kritik

Die IL Marburg macht ihren aktuellen Stand transparent

Der folgende Brief ist die öffentliche Version einer Antwort, die wir in einem langen Prozess als gesamte Gruppe formuliert haben. Sie ist eine Antwort auf Kritik, die uns unsere ehemaligen Genoss*innen 2 Jahre nach ihren Austritten haben zukommen lassen. Wir veröffentlichen diese Antwort, da auch die Kritik veröffentlicht wurde. Den ehemaligen Genoss*innen liegt diese Antwort in einer detaillierteren Form vor.
Wir freuen uns über solidarische Kritik und sind gesprächsbereit - wenn also etwas unklar oder euch nicht ausführlich genug ist, kommt gerne auf uns zu. Dieser Brief wird kein Abschluss sein. Im Gegenteil: Wir werden uns weiter mit vielen der angesprochenen Punkte beschäftigen. Trotzdem sind wir an dem Punkt angelangt, unseren bisherigen Stand transparent zu machen.

Liebe ehemalige Genoss*innen,

wir haben euer Statement zum Gruppenkonflikt erhalten und möchten uns im Folgenden an einer Antwort versuchen. Dass diese mit einiger Verzögerung erscheint, liegt daran, dass wir als Gruppe gemeinsam daran geschrieben und uns in diesem Prozess immer wieder rückgesprochen und reflektiert haben. Denn es ist uns sehr wichtig, eure Kritik ernst zu nehmen und uns umfassend mit ihr auseinanderzusetzen. Im späteren Verlauf unserer Antwort wollen wir auch auf die einzelnen Vorwürfe und Kritikpunkte genauer eingehen, doch es gibt ein paar Punkte, die sich durch das gesamte Papier ziehen, die wir vorab loswerden wollen.
Betonen wollen wir zunächst, dass sich die Gruppenkonstellation seit 2020 natürlicherweise geändert hat: Genoss*innen sind weggezogen, inaktiv geworden oder mach(t)en eine Pause, andere kamen hinzu, aus kurz- oder längerfristigen Pausen zurück und sind nie direkt Teil des Konflikts gewesen. Wenn wir in dieser Antwort also von "wir" sprechen, ist damit keinesfalls die IL-Marburg gemeint, die übrig war, als ihr gegangen seid. Und selbstverständlich sind Diskussionsstände und Praxen nicht mehr die, die sie waren. Dementsprechend sind wir auch verwundert darüber, dass ihr einige Vorannahmen über die Situation der Marburger IL trefft, die sich eher auf den Stand der Gruppe in 2020 denn auf den aktuellen beziehen. Das schmerzt uns doppelt, da einige von euch ja durchaus noch Kontakt und ein freundschaftliches Verhältnis zu einigen von uns haben (oder hatten), dabei offensichtlich aber nicht die Kraft dazu gefunden haben, nach eventuellen Veränderungen zu fragen. Dass eure Kritik "ergebnislos verhallt" sein und "kaum an Aktualität verloren" haben soll, trifft schlicht und ergreifend nicht zu. Wir finden es schade, wenn der Eindruck erweckt wird, dass der Konflikt nur bei euch Spuren hinterlassen hat. Es sind ebenso Genoss*innen ausgetreten (oder haben länger pausiert), weil sie mit eurer Konfliktkommunikation nicht klargekommen sind. Hier hätten wir uns zumindest ein Nachhorchen gewünscht.
Beim Lesen des Statements sind uns einige eurer Kritikpunkte klarer geworden, als sie es uns im Verlauf des Konflikts jemals waren (so schildern es zumindest einige der derzeitigen Genoss*innen, die auch damals schon dabei waren), und gleichzeitig fiel auf, wie unterschiedlich die damalige Situation von beiden Seiten wahrgenommen wurde. Wir finden es schade, dass diese Kritikpunkte erst zwei Jahre später so klar formuliert worden sind, wollen sie aber gerade deswegen nicht einfach abtun. Im Gegenteil haben wir uns ernsthaft damit auseinandergesetzt und wollen dies weiter tun.
Für uns ist aber dennoch erwartbar, dass unsere Antwort euch nicht vollständig zufriedenstellen kann und wird.Trotzdem hoffen wir, euch einige unserer Ansichten durch diese Niederschrift näher zu bringen. Wir wünschen uns weiterhin solidarische Kritik, denn natürlich machen auch wir Fehler und finden es richtig und notwendig, wenn wir darauf hingewiesen werden. Nach wie vor bleibt für uns aber die Überzeugung, dass der sehr schmerzhafte Konflikt auch mit zwei Jahren Abstand nicht einfach zu lösen sein wird. Dafür sehen wir mehrere Ursachen:
Damals wie heute weisen wir auf offensichtlich unterschiedliche Politikverständnisse hin, über das, was interventionistische Politik ist und was eben nicht. Wir sind der Meinung, dass dieser Umstand sich durch den gesamten Konflikt zieht und so ursächlich für weitere Konfliktherde gewesen ist.
Grundlage für unser Verständnis von interventionistischer, linksradikaler Politik ist weiterhin das Zwischenstandspapier (ZSP) der IL von 2014, das jeder*m von euch bei Eintritt in die OG bekannt war. Wir erkennen an, dass sich darin einige Leerformeln befinden, die ausfüllungsbedürftig und diskussionswürdig sind. Nichtsdestotrotz habt ihr offensichtlich irgendetwas damit verbunden, da ihr sonst nicht eingetreten wärt. Aus dem Papier geht deutlich hervor, dass die IL keine Organisation sein will, die linksradikale Politik in einem autonom-klandestinen Rahmen machen will und das aus gutem Grund. Wir gehen davon aus, dass die vielfältigen gesellschaftlichen Probleme nur durch die Mobilisierung breiter gesellschaftlicher Mehrheiten adressiert werden können. Ob das der IL in der Vergangenheit immer gelungen ist, steht auf einem anderen Papier. Es bleibt aber unsere Überzeugung, dass für das „Organisieren der Massen“ nicht auf die selbstreferentielle Politbubble gesetzt werden kann, sondern dass es einen Schritt raus aus der Blase, rein in die Gesellschaft braucht. Das soll jedoch nicht bedeuten, dass wir andere Politikansätze generell als “falsch” bewerten würden, ganz im Gegenteil - auch sie haben ihre politische Legitimität. Die IL begreift sich aber als post-autonome Gruppierung, die wie ein Scharnier linksradikale Politik mit der Mitte der Gesellschaft verbinden will.

Sicherheit

Damit befinden wir uns in einem Spannungsverhältnis von nötiger Sichtbarkeit einerseits und den Risiken andererseits, die sich in Bezug auf Sicherheit ergeben. Wir sind uns bewusst, dass wir als Gruppe keine Sicherheitsexpert*innen waren und diesbezüglich noch Luft nach oben bestand. Selbstkritisch möchten wir deshalb an dieser Stelle festhalten, dass wir es versäumt haben, uns tiefergehendes Know-How anzueignen und umzusetzen.

Dennoch haben wir es so wahrgenommen, dass wir Fragen besprochen haben, die die Sicherheit unserer Gruppenkommunikation betreffen. Und ebenso gehört für uns auch zur Wahrheit dazu, dass eure Position in diesen und ähnlichen Spannungsfeldern absolut oder zumindest teilweise festgefahren und eine Diskussion unmöglich war bzw. im Streit endete. Wie eingangs beschrieben liegt für uns die Ursache dafür in unterschiedlichen Herangehensweisen an das Thema: Wir begreifen es etwa als eines der elementaren Politikverständnisse der IL, überhaupt in die (Medien-) Öffentlichkeit hineinwirken zu wollen. Das bedeutet dann jedoch auch: Entweder die gesamte Gruppe übernimmt gleichberechtigt und gleich oft Medien- und Öffentlichkeitsarbeit, mit den damit einhergehenden Sicherheitsproblemen, oder es entstehen (mindestens) Sichtbarkeitshierarchien, da immer die gleichen (wenigen) Personen öffentlich für uns auftreten. Dieses Spannungsfeld ist uns bewusst und wir begegnen ihm jedes Mal erneut, wenn wir Öffentlichkeitsarbeit machen. Und dieses Spannungsfeld steht eben auch in direktem Zusammenhang mit unterschiedlichen Sicherheitsbedürfnissen, die wir abzufedern versuchen. Wir begreifen dies aber als einen Prozess, der immer wieder neu verhandelt und an Situationen angepasst werden muss und auch wird.

Ihr habt Recht, wenn ihr darauf verweist, dass es in unterschiedlichen Themenfeldern oder für unterschiedliche Arbeitsweisen/Aktionsformen auch unterschiedliche Bedürfnisse nach Sicherheitsstrukturen gibt. Deshalb ging und geht es immer darum, einen Kompromiss zwischen einer für unsere Politik notwendigen Sichtbarkeit und dem Bedürfnis nach Sicherheit zu schaffen. Analog zu diesem Spannungsfeld lassen sich viele der folgenden Punkte beschreiben. Wir begreifen die Politik der IL als Zwischenlösung, die nie perfekt ist, sich ausprobiert und weiterentwickelt. Wir hatten jedoch nicht den Eindruck, dass ihr bei diesen Konflikten die Existenz eines Spannungsfeldes überhaupt anerkennt, geschweige denn kompromissbereit seid. Gerne hätten wir mit euch diskutiert, was unser Auftreten auf Demos oder unseren Internetauftritt eurer Meinung nach kritikwürdig macht. Verblüfft hat uns an dieser Stelle auch die Vermutung, wir hätten einige von euch aus strategischen Gründen in die OG aufgenommen, um “für die Gruppe Antifa-Arbeit zu leisten”. Die Mehrheit der Unterzeichnenden eures Papiers hat über Recht-auf-Stadt-Arbeit zu uns gefunden.

Leistungsimperativ vs. Verbindlichkeit

Was mit „absurd hohem Arbeitspensum" gemeint ist, vor allem während der Zeit, in der der Konflikt schwelte und diese Zeit sich mit dem Großteil eurer Zeit in der Gruppe überschnitten hat, ist für uns unklar. Hier waren wir als Gruppe nach außen handlungsunfähig - von Überarbeitung in Bezug auf Politvorhaben jenseits der Konfliktbearbeitung war also nicht wirklich zu sprechen. Dennoch stimmt es, dass Projekte in der Stadt wie “Afföller retten” bzw. der Mieter*innenbeirat am Richtsberg viel Kraft gekostet haben, diese aber in Anbetracht dessen was wir verteidigen wollten, wohl nicht anders hätten aussehen können. Denn es ist leider Fakt: der Kapitalismus und alle anderen Unterdrückungsformen werden sich nicht kampflos ergeben. Und genau das ist doch der springende Punkt. Kampf impliziert einen Kraftaufwand, eine Anstrengung. Aber gleichzeitig gilt auch, dass wir nicht unreflektiert kapitalistische Arbeitslogik reproduzieren und uns an unserer Arbeit kaputt schuften wollen, sondern langfristig aktiv bleiben möchten. Es ist für uns selbstverständlich, dass nicht alle Menschen gleich viel Zeit und Energie in Projekte stecken können. Dass dies damit verbunden ist, negative Gefühle auszuhalten (z.B. weil man sich schlecht fühlt, wenn um einen herum viele Leute Aufgaben übernehmen und man selber keine Kapazitäten hat), ist uns bewusst und wir arbeiten stetig daran, uns gemeinsam im Klaren zu sein, dass dieser Druck existiert, ihn zu reflektieren und in Teilen zu überwinden.
Unser Wunsch bezog sich immer darauf, dass kommuniziert wird, wenn Leute nicht an Plena teilnehmen können/wollen oder die Zusage für das Übernehmen einer Aufgabe doch lieber wieder abgeben wollen. Diese Kommunikation ist das, was wir mit Verbindlichkeit assoziieren. Dass diese Kommunikation nicht immer leichtfällt, ist nachvollziehbar, aber keinesfalls gleichzusetzen mit Leistungsdruck. Verbindlichkeit wiederum ist die grundlegende Voraussetzung für die Arbeit und vor allem die Koordination unserer Politgruppe. Wenn diese nicht funktioniert, leidet das Gesamtkonzept.

Care-Arbeit

Die Kritik an fehlenden Care- und Supportstrukturen können wir nur zum Teil nachvollziehen: Ja, es lief nicht alles gut. Auch wir hatten mitunter mit Überforderungsgefühlen zu kämpfen, gerade zu Beginn der Pandemie und auch den Eindruck, als Gruppe nicht sonderlich gut mit der Situation umzugehen. Wir sind alle nur Menschen und jede*r einzelne*r ist anders emotional betroffen (gewesen). Gleichzeitig ist es viel verlangt, von allen ein gleiches Maß an Carearbeit gegenüber allen Menschen aus der Gruppe zu erwarten, schließlich haben wir alle auch außerhalb der Politgruppe Care-Arbeit zu leisten. Umso mehr zeigt sich die Notwendigkeit von Strukturen. Ja, wir hatten keine institutionalisierten Care-/Supportstrukturen und die Pandemiesituation hat noch deutlicher gemacht, dass es lohnend gewesen wäre, diese schon vorher zu haben. Nichtsdestotrotz haben wir gerade in der schwierigen Anfangsphase von Corona versucht, miteinander Kontakt zu halten, füreinander da zu sein.
Der primäre Grund unserer Organisierung ist ein gemeinsames Politikverständnis, das eine Definition von Genoss*innenschaftlichkeit beinhaltet, die auch zu engen persönlichen Beziehungen führt. Wir wollen keine neoliberalen Kolleg*innen sein, die nur nebeneinander her arbeiten und sich in wöchentlichen Meetings die Aufgaben zuschanzen. Bei uns in der Ortsgruppe hat sich in den letzten zwei Jahren viel getan - gleichzeitig ist uns klar, dieses Thema wird, wie viele andere Themen auch, keines sein, was man einmal "abarbeitet" und dann zur Seite legen kann.

Hierarchien

Wie in der gesamten radikalen Linken bleibt auch in der IL Marburg die Reproduktion von Hierarchien als Ausdruck der herrschenden Verhältnisse leider nicht aus. Wenn wir für ein Ende der Gewalt kämpfen wollen, müssen wir diese Hierarchien auch in unseren eigenen Strukturen bekämpfen. Richtig ist: Das haben wir lange nicht oder nur unzureichend getan.

Bildungs-/Wissenshierarchien

Hierarchien innerhalb der (Marburger) IL werden von Euch zu Recht kritisiert. Es gibt sowohl (politische) Bildungshierarchien als auch Wissenshierarchien über Praxis. Im Aufnahmeprozess das Zwischenstandspapier als Grundlage unserer politischen Organisierung zu lesen und zu besprechen, reicht da ganz offensichtlich nicht aus. Hier möchten wir uns auf ein Papier von Genoss*innen aus der OG Frankfurt beziehen, die ganz treffend schrieben:

Mit der Veröffentlichung des ZP und dem damit verbundenen Ende einer großen strategischen und grundsätzlichen Debatte innerhalb der IL ist ein zentraler Ort der politischen Verständigung weggefallen. Dieses Fehlen des Austausches über das eigene Politikverständnis als organisierter Zusammenhang lässt diejenigen, die nach 2014 Mitglieder der IL wurden, in einer politischen Praxis zurück, die zwar ihre theoretische Begründung hat, deren Vermittlung und Kollektivierung jedoch nicht als struktureller Teil der Organisierung anerkannt und umgesetzt wird.

Innerhalb der IL werden der Struktur- und Theorievermittlung zu wenig Priorität eingeräumt. Diese Kritik ist berechtigt. Deshalb halten wir die Ausarbeitung eines gemeinsamen Kanons als Grundlage für unsere politischen Debatten für sinnvoll.
Unsere Plena in Pandemiezeiten waren geprägt von organisatorischen Themen. Die inhaltliche Diskussion und damit auch der politische Streit, Einigung und Bildung kamen lange viel zu kurz. Wir haben unsere Plenumsstruktur allerdings schon vor einiger Zeit dahingehend geändert, dass solche Diskussionen einen regelmäßigen, expliziten Raum bekommen. Politische Weiterbildung ist für uns alle nie abgeschlossen.
Die Frage von Wissenshierarchien in unserer Gruppe begreifen wir auch als Spannungsfeld, welches sich am Ende des Tages niemals völlig auflösen lassen wird. Der Abbau solcher Barrieren ist immer auch an persönliche Kapazitäten gebunden, und diese sind in unserer Gruppe aus verschiedensten Gründen ungleich verteilt. Die Unterschiede von Kapazitäten im Hinblick auf Wissenshierarchien haben wir in der Vergangenheit nicht ausreichend versucht auszugleichen.
Nicht zuletzt setzen alle Versuche, Hierarchien abzubauen, auch die Bereitschaft voraus, sich beispielsweise bei Skill-Sharing-Workshops darauf einzulassen. Eine Bereitschaft, die wir bei einigen von euch sehr vermisst haben. Daher sind wir, bei aller berechtigten Kritik, enttäuscht, wie die Versuche des Hierarchieabbaus unsererseits durch euch unsichtbar gemacht werden.

Hierarchien durch Auftreten/Vernetzungshierarchien

Durch die genannten Hierarchien, aber auch durch dominantes Redeverhalten, werden neue Genoss*innen abgeschreckt, sich aktiv in Gruppenprozesse und Diskussionen einzubringen und ein Ankommen in der Gruppe erschwert. Zusätzlich dazu kristallisieren sich so Genoss*innen heraus, die durch ihr selbstbewusstes und dominantes Auftreten den Ton anzugeben scheinen.
Dieser Punkt ist absolut berechtigt. In unserer Gruppe gab und gibt es immer wieder Probleme mit (männlich-) dominantem Redeverhalten. Das war und ist uns allen bewusst. Die IL Marburg ist – ebenso wie der Rest der radikalen Linken – Teil der patriarchalen Strukturen, die uns umgeben. Um diese Strukturen zu überwinden, bedarf es stetiger Bemühungen. Allerdings wird auch hier verschwiegen, dass es diese durchaus gab: So führten wir z.B. eine (längst überfällige) quotierte Redeliste ein, eine von uns gemeinschaftlich während des Konflikts eingeführte Repro-Liste wurde mit der Begründung eurerseits (!), so etwas setze Einzelne zu sehr unter Druck, letztendlich wieder abgeschafft.
Dominantes Auftreten ist auch einer der Gründe dafür, dass einige Genoss*innen nach außen besser  vernetzt sind oder als “Köpfe” der Gruppe wahrgenommen werden. Dennoch erscheint es uns zu einfach gedacht, persönliche Dispositionen und die Verbindung zu den Themen Sicherheit, Sichtbarkeit und Kapazitäten an dieser Stelle auszublenden. Hier möchten wir noch einmal klarstellen: Eure Kritik an patriarchalem Auftreten und Redeverhalten ist berechtigt. Gleichzeitig liest sie sich für uns aber wie eine schematische Gegenüberstellung zweier homogener Blöcke, nach dem Motto “hier das Patriarchat mit ihren dominanten Mackern und dort feministische Progressivität”. Wir glauben aber, dass die in der Gruppe entstandene und von euch zu Recht kritisierte Dynamik auch um andere Themen ergänzt werden muss, wenn ein ehrliches Gesamtbild der damaligen Lage entstehen soll. Dazu gehört nämlich auch, dass nicht jede*r in der Gruppe das Bedürfnis hatte und hat ihr*sein Gesicht auf Demos zu zeigen, geschweige denn für die IL Marburg zu sprechen. Auch hat und hatte nicht jede*r das Bedürfnis, sich in anderen Kontexten als Teil der IL Marburg zu exponieren, nicht zuletzt aufgrund unterschiedlicher Sicherheitsbedürfnisse, die es zu beachten gilt. Des Weiteren ist es  eben nicht für alle möglich, auf mehreren Plena die Woche zu sitzen, zusätzlich auch noch überregionale Arbeit zu leisten und nebenher die Praxis und Care-Arbeit nicht herunterfallen zu lassen - womit wir auch wieder beim Leistungsdruck wären. Doch soll all das dann dazu führen, dass die Genoss*innen, die die Kapazitäten und Möglichkeiten dafür haben, diese Arbeit nicht leisten dürfen? Unserer Meinung nach nicht. Die entsprechend entstehenden Ungleichheiten in der Vernetzung, dem Auftreten nach außen und auch nach innen, müssen dann aber kollektiv angegangen werden. Das gelingt uns nicht immer. Aber auch hier sehen wir ein facettenreiches Spannungsfeld, auf das wir sicherlich keine perfekte Antwort gefunden haben oder finden werden, das aber durchaus bearbeitet wird. Wir sind der Meinung, dass eure Kritik zu diesem Thema verkürzt ist und dadurch eine Zweiteilung suggeriert wird, die der Komplexität der Situation in einer Politgruppe nicht gerecht wird.

Antirassismus

Das Thema Antirassismus war für uns in der Marburger Ortsgruppe bisher kein Schwerpunkt und jenseits von einzelnen Aktionen und infrastruktureller Unterstützung kaum Teil unserer gemeinsamen Praxis. Diese Kritik habt ihr richtigerweise schon im Konflikt geäußert und trotzdem ist es uns bis dato kaum gelungen, daran etwas zu ändern.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass das Thema Antirassismus sowohl im gesamtgesellschaftlichen, als auch im linksradikalen Diskurs durchaus verschiedene Ansätze zulässt. Es ist kein Geheimnis, dass die IL eine überwiegend weiße Organisierung ist, was auf jeden Fall kritisiert und verändert werden muss. Die Frage, wie diese Veränderung vonstatten gehen kann, ist unserer Meinung nach aber nicht so einfach und erst recht nicht abschließend zu beantworten.  
Uns erscheint die von euch geforderte, gezielte Aufnahme von BIPoC als eben jener angeprangerter Tokenismus. Wir wollen uns mit Menschen organisieren, die unsere Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse teilen und in interventionistischer Politik einen probaten Ansatz sehen, diese zu bekämpfen. Wir finden die Podcast-Folge “Ist die IL zu weiß?” aus der Serie “Cancel Culture” mit Berena aus der IL Köln diesbezüglich gewinnbringend. 
Die in diesem Zusammenhang getroffene Unterstellung vom „unreflektierten westlich- eurozentrischen Weltbild“ finden wir irritierend. Darüber gab es im entscheidenden Zeitraum überhaupt keine Diskussion und das liegt nicht daran, dass wir uns dem verweigert hätten. Uns fallen da viele interessante Themen und Fragen ein – Wie geht nicht-eurozentrische Politik im Herrschaftszentrum Europas? Wie ist unser Verständnis internationaler Solidarität? Warum kommt zum Beispiel der ganze afrikanische Kontinent mit seinen historischen und gegenwärtigen Kämpfen so wenig vor auf unserer Solidaritätslandkarte?
Damals wie heute fehlte es an einem gemeinsamen Grundverständnis von antirassistischer Politik. Das Thema ist komplex und es gibt nicht „das eine richtige“ Verständnis davon. Gerade in einer „weißen“ Gruppe wie unserer ist allerdings ein antirassistischer Grundkonsens wichtig. Wir wollen das Erlangen eines solchen in Zukunft mehr ins Zentrum unserer Bemühungen rücken. Wir wollen deshalb in Zukunft sowohl den geplanten Antira-Workshop nachholen, als auch unsere Politik mehr nach antirassistischen Maßstäben ausrichten. Dafür wollen wir Betroffenenperspektiven stärker in den Fokus rücken. Das ist uns in der Vergangenheit nicht gelungen. Das tut uns leid.

Zusammenarbeit mit der DIDF-Jugend

Gerade den Vorwurf, wir würden weiter unreflektiert mit der DIDF-Jugend zusammenarbeiten, können wir nicht nachvollziehen. Im Bündnis zur Hanau-Jahrestags-Demo waren wir die einzige Gruppe, die den Vorfall im Orga-Plenum thematisiert und sich von der Mitorganisation zurückgezogen hat. Im Nachgang haben wir in gezielten Gesprächen versucht, eine klare Positionierung der DIDF-Jugend zu erreichen, was nur unzureichend gelungen ist. Und spätestens an diesem Punkt wurde klar, dass unsere Handhabe begrenzt ist. Langjährige Freundschaften zu Mitgliedern der DIDF-Jugend sind über diesen Konflikt zerbrochen. Und doch stimmt es: Gemeinsam mit der DIDF-Jugend standen wir 2022 wieder auf dem Plakat zur “2-Jahre-Hanau-Demo”, unserer einzigen darauffolgenden “Zusammenarbeit”. Im konkreten Fall, dem Gedenken an das rassistische Attentat in Hanau, sind wir zu dem Schluss gekommen, auch gemeinsam mit der DIDF-Jugend, eine der wenigen Migrant*innenselbstorganisationen in Marburg, für diese Demo zu werben - dazu stehen wir auch weiterhin. Selbstverständlich bedeutet das nicht, dass wir die DIDF-Jugend aus der Verantwortung nehmen würden, die Vorfälle aufzuarbeiten oder schlicht die Vorfälle "vergessen" hätten. Seit dem Vorfall gab es keine weitere Zusammenarbeit mehr mit der DIDF-Jugend.

Vorwurf fehlende FLINTA*-Quote

Den Vorwurf, es würde eine FLINTA*-Quote fehlen, verstehen wir nicht. Es gibt bereits einen Aufnahmestopp für Cis-Dya-Männer, sobald das Verhältnis bei 50% angekommen ist, diesen gab es schon vor und während des Gruppenkonflikts. An diesen wurde sich bislang auch gehalten und er besteht auch weiter. Natürlich kann es durch Pausen oder Austritte von Genoss*innen dazu kommen, dass ein Ungleichgewicht der Quotierung entsteht.
Ja, es ist richtig: Nach den ersten Austritten und dem abschwellenden Konflikt haben wir unsere Politarbeit nach außen wieder aufgenommen. Im Zuge dessen gab es auch neue Aufnahmen. Da jedoch die FLINTA*-Quotierung hierbei nicht gekippt, sondern beibehalten wurde, verstehen wir nicht, worin die "bewusste Entscheidung gegen eine FLINTA*-Quotierung" liegen soll - die erste nach dem Konflikt aufgenommene Person war eine FLINTA*-Person.
Außerdem möchten wir an dieser Stelle betonen, dass sich eure Kritik leicht so verstehen lässt, als wäre die Hauptachse des ganzen Konflikts diejenige zwischen Cis-Dya-Männern und FLINTA*-Personen gewesen. Wie schon weiter oben beschrieben, neigt eine solche Gegenüberstellung dazu, den Konflikt stark zu vereinfachen und nicht zuletzt macht es auch diejenigen FLINTA*-Personen mit ihren Positionen unsichtbar, die eure Kritik in ihrer Gänze nicht geteilt haben. Das finden wir sehr schade, sehen aber gerade das auch als Beweis an, dass eine absolute Einteilung in “Blöcke” innerhalb eines Konflikts zwar einfach, aber letztlich eine Illusion ist.

Transfeindlichkeit

Es stimmt, dass eins der damaligen getrennten Plena nicht als 'cis-dya-Männerplenum' bezeichnet wurde. Manche nannten es 'Männerplenum' andere 'cis-(Männer-)Plenum'. Unserer Erinnerung nach wurde die Bezeichnung der Plena (insb. des 'Männerplenums' als 'cis-dya-Männerplenum') nie thematisiert oder problematisiert. Diese Problematisierung finden wir trotzdem richtig - wir hätten uns nur gerne gewünscht, schon damals darüber zu reden. Uns "krasse Transfeindlichkeit" vorzuwerfen und das an einer Fehlverwendung von Begriffen festzumachen, steht für uns in keinem Verhältnis. Trotzdem müssen wir uns eingestehen: Die Befreiung von binären Strukturen gelingt uns noch nicht so, wie wir sie gerne umgesetzt hätten.

Definitionsmacht & Parteilichkeit

Wir teilen das Konzept der Definitionsmacht und Parteilichkeit. Wir stehen bedingungslos hinter dem “Leitfaden im Umgang mit sexueller/sexualisierter Gewalt innerhalb der Interventionistischen Linken”. Diesen Beschluss tragen alle Gruppenmitglieder mit. Folgerichtig stehen diese Konzepte für uns auch nicht einer undogmatischen Politgruppe, als die wir uns begreifen, entgegen. Wir sind uns aber bewusst: Nicht allen fällt diese Überzeugung leicht - Zweifel am Konzept der Parteilichkeit und Definitionsmacht sind nichts Neues und leider Teil der patriarchalen Strukturen, in denen wir alle sozialisiert worden sind. Diese Zweifel müssen unserer Meinung nach auch einen Raum bekommen, indem sie reflektiert, diskutiert und ausgeräumt werden müssen. In der Kommunikation mit Dritten – auch informell – haben diese Zweifel allerdings nichts zu suchen. Im genannten Plenum (in welchem es genau darum ging etwaige Differenzen offen zu kommunizieren und auszudiskutieren) ist die Diskussion um solch einen Zweifel eskaliert: Es wurde hypothetisch formuliert, dass Falschbeschuldigungen z.B. im Zusammenhang mit psychischen Krisen für möglich gehalten werden und deswegen Zweifel am Konzept der Definitionsmacht und Parteilichkeit bestehen.
Wir sind überzeugt: Die getätigten Aussagen sind falsch, unangemessen und verletzend gewesen. Wer den Leitfaden und die damit verbundenen Konzepte nicht akzeptieren kann, kann auch nicht Teil der Gruppe sein. Die Person, die diese Aussage getroffen hat, ist seit dem damaligen Plenum nicht mehr Teil der Gruppe. Auf einen zunächst temporären Ausschluss von den Plena folgte eine anschließende Nicht-Wiederaufnahme. Diese Konsequenzen halten wir weiter für richtig und wir können die Aussage, personelle Konsequenzen wurden nur “halbgar” und mit “andauernder Abwehr” gezogen, nur teilweise nachvollziehen: Die Person ist weiterhin nicht Teil unserer Gruppe. Es stimmt, dass wir über verschiedene Modelle der Beteiligung der Person in der OG weiter nachgedacht haben, z.B. die Einbindung nur in die AG-, nicht aber die OG-Arbeit. Dies stand jedoch immer unter der Voraussetzung einer Aufarbeitung der Aussagen. Letztendlich ist die Person nie wieder Teil unserer Gruppe geworden.
Trotzdem haben einige von uns weiter eine freundschaftliche Beziehung zu dieser Person oder halten weiter Kontakt. Die Person hat jedoch keinerlei Einfluss auf unsere Politarbeit und ist neueren Genoss*innen nicht einmal bekannt.

Ein paar Worte zum Schluss…

Wir arbeiten stetig an einer gemeinsamen Definition von Genoss*innenschaftlichkeit und sind dabei noch nicht am Ende angelangt. Was aber für uns alle feststeht, ist: Genoss*innen sein heißt auch, dass wir uns in einem Meinungskorridor bewegen, in dem wir uns wohlwollend aufeinander einlassen wollen und müssen. Das impliziert, dass wir bei allen Unterschieden gemeinsam in die gleiche Richtung laufen.
Wir hoffen, dass deutlich geworden ist, dass wir eure Kritik an einigen Stellen annehmen möchten und vor allem froh sind, dass diese nun so klar geäußert wurde. Und trotzdem sind wir der Meinung, dass es bei rückblickender Betrachtung unserer gegensätzlichen Positionen sinnvoll gewesen wäre, den Konflikt viel früher zuzuspitzen, Differenzen klar und ehrlich herauszuarbeiten, um dann in einer politisch bewussten Entscheidung getrennte Wege zu gehen.

Solidarische Grüße
IL Marburg - Gruppe d.i.s.s.i.d.e.n.t.